Die Seilnetz-Landschaft im brasilianischen Pavillon gehört zu den Publikumslieblingen der Expo 2015 in Mailand – und damit auch zu den am häufigsten in den Medien gezeigten Motiven dieser Weltausstellung. Hergestellt und montiert wurden die Seilnetze von Corocord, den Raumnetz-Erfindern aus Berlin. Die Ausführungsplanung und Statik übernahm das auf solche Strukturen spezialisierte Büro Officium aus Stuttgart.
Die von Licht und Luft durchflutete Landschaft aus filigranen Seilnetzen begeistert: Sie schwingt, sie atmet im Rhythmus der Bewegung all jener Menschen, die sie betreten. Wer in den 120-Millimeter-Maschen läuft, klettert oder sitzt, den fasziniert das lebendige Bauwerk sofort. Und so stehen die Gäste der „Expo 2015“ in Mailand seit der Eröffnung der Weltausstellung am 1. Mai 2015 in Fünferreihen Schlange, um die beiden großen Corocord-Seilnetze zu erkunden, die den brasilianischen Expo-Pavillon prägen.
„Es ist spektakulär zu sehen, mit welcher Freude und Neugier die Menschen auf diese Netzwelt reagieren“, freut sich Torsten Frank, Prokurist der Corocord GmbH und Leiter des neuen Kompan Design Studios. Raumnetz-Erfinder von Corocord haben die beiden Seilnetze komplett in Berlin angefertigt und sie über Ostern 2015 zusammen mit Mitarbeitern der Corocord-Muttergesellschaft Kompan in Italien montiert. Kompan Italien war auch der Vertragspartner der brasilianischen Handelsfirma APEX, die den Auftrag für die Seilnetze erteilte.
Die Arbeit an dem architektonischen Solitär des Expo-Pavillons steht für Corocord, bekannt durch innovative Seilspielgeräte, in einer guten Tradition: So entstanden in den vergangenen Jahren beispielsweise eine Seilnetz-Skulptur als Herzstück des Projektes „Kunst + Architektur in Alt Köpenick“ (KAiAK) in Berlin, der „Interaktive Loop“ des Weltkulturen-Spielplatzes in Wiesbaden und die „Netzvilla“ in Schwäbisch Gmünd.
Die im vergangenen Jahr realisierte Netzvilla hat Corocord zusammen mit dem auf das Entwerfen und Konstruieren von Seilnetz-Tragwerken spezialisierten Büro Officium entwickelt. Und diese starke Partnerschaft bewährte sich nun auch bei dem Projekt für den brasilianischen Pavillon: Officium berechnete Form und Statik der gegensinnig gekrümmten Netzflächen, Corocord setzte die Pläne dann in der Berliner Manufaktur in ebenso ästhetisch herausragende wie handwerklich perfekte Strukturen um.
„Das hyperparaboloid ausgeformte Netz lebt, es macht irrsinnigen Spaß, darauf zu laufen“, sagt Thomas Ferwagner, Geschäftsführer der Officium Design Engineering GmbH in Stuttgart. Möglich ist das, weil beide Netze durch ihre ausgeklügelte Form in sich sehr stabil sind und sich die Spannung in den einzelnen Sektoren nahezu ausgleicht.
Was dem Besucher des Pavillons die Anmutung einer fast schwerelosen Bewegung vermittelt, haben die Ingenieure in Stuttgart durch einen aufwendigen Formfindungs- und Berechnungsprozess erreicht, erklärt Ferwagner: „Um Netze so stabil zu konstruieren, mussten wir quasi in jedem einzelnen Quadratmeter gegensinnig gekrümmte Flächen schaffen“.
So entstand aus dem ersten Entwurf der brasilianischen Planungsgemeinschaft Studio Arthur Casas/Marko Brajovic von 2014, der noch flächig in die Tragstruktur des Pavillons aus Cortenstahl eingehängte Netze vorsah, eine dynamisch geschwungene und in sich stabile Netzwelt. „Jeder Schritt lässt den Besucher hier spüren, welche extreme Nähe es zwischen Form und Statik gibt“, sagt Ferwagner. Die Zugkräfte der beiden Seilnetze werden über die Ränder der Flächen sowie über in die Netze integrierte, ringförmige Versteifungen mit 16 Millimeter dicken Abspannseilen in die Tragstruktur des Pavillons abgetragen.
Bei der fünf Wochen dauernden Montage der Seilnetze entfalteten sich die mächtigen und schweren Pakete aus insgesamt 24 Kilometer Seil und 120.000 von stählernen S-Klemmen gebildeten Knoten nach und nach zu den harmonisch geschwungenen Oberflächen, die seit der Expo-Eröffnung die Besucher begeistern. „Dieses Objekt ist bisher unser größtes und spektakulärstes Architekturprojekt – und es hat ein grandioses Echo bei den Menschen gefunden“, freut sich Torsten Frank über die positive Resonanz von Fachwelt und Publikum.
Um nach den detaillierten Plänen von Officium die riesigen Netze mit 12 x 60 Meter sowie 14 x 35 Meter Fläche perfekt knüpfen zu können, mietete Corocord in Berlin eigens eine Montagehalle mit einer 20 x 60 Meter großen, stützenlos überspannten Arbeitsfläche an. Hier entstanden die beiden Netze aus aufwendig nach Sonderanfertigung in Herkules-Machart konstruierten Seilen, wie sie Corocord auch für die ikonischen Spielgeräte einsetzt. Für dieses Projekt wurden Seile mit vierlitzigen Stahldrahtseilen verwendet: Dabei ist jede Litze mit PES-Garn dicht umwickelt. Anschließend wird das Garn induktiv auf die Seele aufgeschmolzen – das macht die Seile besonders widerstandsfähig gegen Abrieb und gegen Längsverschiebungen der Garnkonstruktion auf dem Stahldraht.
Im Vergleich zu den klassischen, von Corocord-Gründer Conrad Roland in den 1970er-Jahren entwickelten Seilspielgeräten, kamen für die Netzlandschaft des Expo-Pavillons filigranere Seile mit 16 Millimeter Durchmesser zum Einsatz. Auch der mattierte Edelstahl der S-Klemmen für die Knoten hat mit 6 Millimeter einen schlankeren Durchmesser als bei den Spielgeräten üblich. So ergeben sich für den Betrachter organisch gewölbte Oberflächen aus regelmäßigen Maschen mit 120 Millimeter Kantenlänge.
Zur zusätzlichen Sicherung der täglich von mehreren tausend Menschen begangenen Struktur sind unter die eigentlichen Netzflächen noch zwei weitere Schichten gespannt: Ein feinmaschiges Kunststoffnetz verhindert das Herunterfallen von Mobiltelefonen oder noch kleineren Gegenständen, es bildet zusammen mit einem großmaschigen Edelstahl-Netz eine stabile Sicherheitsstruktur.
Solche Details nehmen die Besucher jedoch auf den ersten Blick nicht wahr, sondern sie lassen lieber die gesamte Seilnetz-Landschaft mit allen Sinnen auf sich wirken. Und so geht dank dieser großen, ästhetischen Bewegungs- und Begegnungsstätte der Expo 2015 im brasilianischen Pavillon Tag für Tag die Welt ins Netz.
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