Von Stieglitz bis zum Falken: Auf den Spuren des deutschen Unternehmertums in Sankt Petersburg

Die Straßen wirken scheinbar vertraut, wären da nicht immer wieder die ur-russischen Zwiebeltürme und die „Produkti“-Läden, in denen mit sovjetischer Höflichkeit kassiert wird.

So kenne ich aus der Hauptstadt Moskau, in die ich vor sechs Monaten gekommen bin, um dort einen Teil meines Sprach- und Kulturstudiums zu absolvieren. Mit dem Nachtzug bin ich von dort nach Sankt Petersburg gereist, um an einem Journalisten-Workshop für Studenten aus Deutschland und der GUS teilzunehmen. Dass die Stadt auf mich so europäisch-heimisch wirkt, ist kein Zufall, sondern liegt in ihrer Geschichte begründet.

Sankt Petersburg, das 1703 von Peter dem Ersten begründete „Fenster nach Europa“ sollte einerseits in strategisch günstiger Lage Russlands Ansprüche auf einen Seezugang zur Ostsee durchsetzen, andererseits zur Keimzelle für die Modernisierung des Landes werden. Zum Aufbau holte der Zar Handwerker aus Europa ins Land, deren fortschrittliche Techniken die Stadt in nur neun Jahren entstehen ließen. Durch die günstigen wirtschaftlichen Bedingungen ließen sich die meisten von ihnen nieder und machten Sankt Petersburg zum Zentrum europäischer Wissenschaftler und Fachkräfte. Der in die neue Hauptstadt übersiedelnde Adel schuf durch seine Nachfrage einen Markt für Luxusartikel und verhalf damit vor allem Handelsunternehmen zu Prosperität.

Wie ich als Teilnehmerin während des Workhops erfahre, nahmen die Deutschen unter den ausländischen Neubürgern von Anfang an einen besonderen Platz ein: In Sankt Petersburg waren sie als Ärzte und Wissenschaftler, aber auch als Staatsbeamte und Unternehmer bekannt. Die ersten deutschen Siedlungen entstanden am linken Ufer der Neva, entlang der späteren Millionnaja Uliza. Die zugezogenen Familien integrierten sich in das Leben der Stadt, zugleich bemühten sie sich aber, ihre kulturellen Wurzeln zu erhalten und eine traditionell deutsche Lebensweise zu pflegen. Davon zeugten etwa von ihnen gegründete Freizeitvereine und eine kulinarische Vorliebe für Bier und Gebäck. Eigenschaften wie Pünklichkeit, Fleiß und Genauigkeit, die den Deutschen von den Russen zugesprochen wurden, verschafften deutschen Händlern und Waren den Ruf hoher Qualität.

Im 19. Jahrhundert prägten Ladenschilder und Werbung in deutscher Sprache das Stadtbild. Deutsche Fleischereien, Uhrmacher, Schuster und Bäcker waren im Gewerbe der Stadt feste Größen. Zu dieser Zeit kamen zahlreiche Unternehmer aus Deutschland hinzu, um Filialen ihrer Betriebe in Sankt Petersburg zu eröffnen. Zur Jahrhundertwende waren 80 Prozent des lokalen Kapitals bei deutschen Geldinstituten wie der Deutschen und der Dresdner Bank konzentriert, deren Vertreter auch im Vorstand der Russischen Bank für Außenhandel saßen. Legendär ist die Karriere des späteren Baron Ludwig Stieglitz, der als kaiserlicher Hofbankier, Vorstand der Russischen Staatsbank und gleichzeitiger Privatunternehmer zu einem der reichsten Männer Russlands wurde.

Namhafte Firmen aus der Blütezeit des deutschen Unternehmertums an der Neva sind etwa die Zuckerfabrik L.E. König und Erben, deren Zucker-König“ genannte Inhaber seine Arbeiter als einer der ersten Unternehmer gegen Arbeitsunfälle versicherte, oder die ein Jahrhundert lang bestehende Klavierfabrik Schröder von 1818, die ihre Produktion immer mit der neuesten Technik ausstattete – zunächst mit Dampfmaschinen, später mit Automaten aus den USA. Wo Deutsche sind, darf es natürlich an Bier nicht fehlen. 1863 entstanden die Brauerei Bavaria, eine russisch-bayerische Aktiengesellschaft, die zehn verschiedene Biersorten anbot und zu ihrer Zeit bis zu 7,2 Millionen Liter Bier im Jahr produzierte. In der Sowjetunion wurde der Betrieb verstaatlicht und unter dem Namen „Krasnaja Bavaria“ (Rotes Bayern) jahrzehntelang weitergeführt.

Die Kleinunternehmen und das deutsche Kulturleben überlebten diese Zeit jedoch nicht, erfahre ich bei einer Führung durch die evangelische Sankt Petri-Kirche, deren Gemeinde mit Deutschkursen und Veranstaltungen das kulturelle Leben der deutschen Minderheit fördert. Im zweiten Weltkrieg war es zu einer Bedrohung geworden, auf der Straße Deutsch zu sprechen, die meisten deutschen Geschäfte wurden geschlossen, Kulturzentren russifiziert oder getilgt. Die Petrikirche etwa wurde nach dem Krieg als Schwimmbad genutzt.

Aus dem heutigen Stadtbild Sankt Petersburgs sind deutsche Kleinunternehmer und Einzelhändler daher fast verschwunden. Eine bedeutende Rolle als Investoren spielen jedoch deutsche Großbetriebe wie Miele, Osram und Schaeffler, die meist als Tochtergesellschaften im Industriegebiet rings um die Stadt vertreten sind. Siemens hat in Sankt Petersburg drei über die Stadt verteilte Betriebe und war hier bereits zur Zarenzeit präsent. Im Auftrag von Nikolaus dem Ersten baute Carl von Siemens ein landesweites Telegraphennetz in Russland auf und stattete den Newskij Prospekt mit elektrischer Beleuchtung aus.

Deren Runderneuerung entlang der 2,4 Kilometer langen Hauptverkehrsstraße Sankt Petersburgs übernahm eine staatliche russische Firma. Deutsche Großinvestoren, bemerke ich während meiner Recherche, kommen im heutigen Sankt Petersburg eher dort ins Spiel, wo ihr Markenname nicht im Vordergrund steht. Die Siemens-Tochtergesellschaft etwa behauptet mit 1,5 Milliarden Euro Jahresumsatz in Russland ihre Position. Der Sapsan – „Falke“ genannte Schnellzug, der mich nach dem Workshop in nur vier Stunden zurück nach Moskau bringt, ist beispielsweise ein Siemens-Produkt.

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